Zum Inhalt springen
Stasi-Karteikarten F 16 (oben) und F 22 der Archiv-Abteilung XII zu Detlev S.
Die F-16- und F-22-Karteikarten sind Schlüssel zu einem großen Teil der Stasi-Unterlagen, auch zum Fall des 18-jährigen Detlev S. und des 17-jährigen Karl-Heinz Kube. Am 16. Dezember 1966 versuchten die beiden, in Kleinmachnow die Grenze nach West-Berlin zu überwinden. DDR-Grenzsoldaten eröffneten das Feuer, verletzten Karl-Heinz Kube tödlich und nahmen S. fest. Danach versuchte die Stasi, Kubes Todesursache zu verheimlichen, beobachtete das Umfeld der beiden und brachte S. vor Gericht.
Quelle: BArch, MfS, Abt. XII, Nr. 8376 und Nr. 8370
Die Stasi hatte zentrale Aufgaben bei der "Grenzsicherung" der DDR: So führte sie Regie bei Zwangsumsiedlungen aus den Grenzgebieten ins Landesinnere der DDR, überwachte die Grenztruppen, kontrollierte Reisende an den Grenzübergängen und führte bei jedem Grenzvorfall die Ermittlungen. Endete ein Fluchtversuch tödlich, verschleierte sie die Todesursache so weit wie möglich.
Stasi-Protokoll zur Vorbereitung von Zwangsumsiedlungen im Kreis Bad Salzungen, 21. Mai 1952
1952 riegelte das SED-Regime die innerdeutsche Grenze ab. Dazu gehörte unter dem Decknamen "Ungeziefer" die unangekündigte Zwangsumsiedlung Tausender "unzuverlässiger" Bewohner des Grenzgebiets. Die Stasi leitete die Aktion an. Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 nahm die Stasi weitere Zwangsumsiedlungen vor. Diesmal vergab sie selbst die Decknamen: "Frische Luft" im Bezirk Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) oder "Blümchen" im Bezirk Suhl.
Quelle: BArch, MfS, BV Suhl, KD Bad Salzungen, Nr. 17, Bl. 116 f.
Stasi-Formular der Aktion "Grün" zur Zuverlässigkeitsüberprüfung von Wehrpflichtigen für den Grenztruppendienst, Juni 1988
Für den Dienst bei den Grenztruppen war die politische Zuverlässigkeit der Wehrpflichtigen die wichtigste Voraussetzung. Dies schloss die Bereitschaft ein, auf Flüchtende zu schießen. Die Vorab-Überprüfung der Wehrpflichtigen lag in den Händen der Stasi: Die örtliche KD holte am Wohnort und auf der Arbeitsstelle Informationen über sie ein und wertete sie aus.
Die NVA-Grenztruppen selbst standen unter intensiver Kontrolle der HA I. Dennoch flüchteten bis 1989 über 2.200 Rekruten.
Quelle: BArch, MfS, BV Berlin, KD Pankow, Nr. 97, Bl. 111 f.
Fluchtversteck in der Ladung eines Lkw: Stasi-Film über Kontrollaufgaben der Stasi im Transitverkehr zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik, um 1974 (Ausschnitt)
Die Stasi war an allen Grenzübergängen präsent, die Übergänge zu West-Berlin waren ihr direkt unterstellt. Wenn sie Fluchtversuche vereitelt und Flüchtende oder Fluchthelfer verhaftet hatte, zwang sie die Betreffenden oftmals, den Ablauf nachzustellen und filmte oder fotografierte sie dabei. Die so entstandenen Bilder nutzte die Stasi als Beweismittel und, wie der Kommentar im Film deutlich macht, zur ideologischen Schulung.
Quelle: BArch, MfS, ZAIG, Fi, Nr. 195
Stasi-Vermerk zur "Leichensache" Gerald Thiem, 22. September 1970
Todesfälle an den Grenzanlagen vertuschte die Stasi so weit wie möglich: Das Ansehen des SED-Regimes sollte nicht beeinträchtigt werden. So auch im Fall Gerald Thiems, der am 7. August 1970 alkoholisiert von West-Berlin aus über die Berliner Mauer geklettert war. DDR-Grenzer erschossen ihn auf Ost-Berliner Territorium. Die Stasi verheimlichte in Absprache mit der Generalstaatsanwaltschaft der DDR seinen Tod. Sie ließ den Leichnam einäschern und die Asche auf einem Friedhof verstreuen. Erst 1994 erfuhr seine Familie, was dem vermeintlich "Vermissten" zugestoßen war.
Quelle: BArch, MfS, AS, Nr. 754/70, Bd. 1, Bl. 156
Die Abteilung XII wurde 1950 als "Abteilung Erfassung und Statistik" gegründet. Sie verwaltete die Stasi-Archive in der Zentrale und den BV und ermöglichte den Zugang zu den Unterlagen. Die Werkzeuge dazu waren Karteien, insbesondere die Personenkarteien F 16 und die Vorgangskarteien F 22. Hinzu kamen weitere Karteien wie die Feindobjektkartei F 17, die Decknamenkartei F 77 oder die Straßenkartei F 78. 1989 führte die Abt. XII allein in der Ost-Berliner Zentrale in 12 Hauptkarteien über 18 Mio. Karteikarten.
Mitarbeiterin und Mitarbeiter der Abt. XII bei der Arbeit an Karteiumlaufschränken in der Stasi-Zentrale, 80er Jahre
Die Abt. XII führte das F-16/F-22-System 1960 ein und nutzte es kaum verändert bis zum Ende der Stasi. Beide Karteien waren verschlüsselt angelegt und streng konspirativ geführt. Erst ein Abgleich beider Karteien gab Auskunft darüber, ob jemand als IM oder Zielperson erfasst war und wo Unterlagen zu der Person zu finden waren.
Quelle: BArch, MfS, Abt. XII, Fo, Nr. 92, Bild 2
Tafel der Abt. XII aus einer internen Ausstellung über ihre Arbeit, nach 1984
Die Archive der Abt. XII in der Zentrale und in den BV bewahrten Akten abgelegter Vorgänge auf. Sie dienten nicht der endgültigen Verwahrung der Unterlagen, sondern waren Arbeitsarchive, die laufend genutzt wurden. War Archivmaterial zu einer Person vorhanden, konnten Stasi-Diensteinheiten es bei der Abt. XII anfordern. Die Unterlagen standen unter Geheimhaltung, ihre Nutzung kontrollierte die Abt. XII streng.
Quelle: BArch, MfS, Abt. XII, Nr. 8408, Tafel 1
"Haus 9" in der Stasi-Zentrale: das Archiv- und Karteigebäude der Abt. XII, nach 1984
"Haus 9" wurde 1984 eröffnet. Bis dahin waren die zentralen Karteien sowie das Zentralarchiv in der "Villa Heike" in der Freienwalder Straße im Stasi-Sperrgebiet in Berlin-Hohenschönhausen untergebracht, unweit der zentralen Untersuchungshaftanstalt.
Quelle: BArch, MfS, BdL, Fo, Nr. 83, Bild 15
Computerarbeitsplätze der Abt. XII, 80er Jahre
Seit den 60er Jahren digitalisierte die Abt. XII ihre Karteien und war dafür überdurchschnittlich gut mit EDV-Technik ausgerüstet. So gab die "SAVO"-Datenbank ab 1975 Auskunft, ob eine Person in der F-16-Kartei der Stasi-Zentrale "erfasst" war. Der Prozess einer solchen Stasi-Routineabfrage verkürzte sich bis 1986 von rund drei Wochen auf weniger als sechs Tage. Die nun eigentlich überflüssigen Karteikarten führte die Abt. XII dennoch weiter.
Quelle: BArch, MfS, Abt. XII, Fo, Nr. 93, Bild 9
Detlev S. und sein Freund Karl-Heinz Kube hatten seit September 1966 über eine gemeinsame Flucht aus der DDR gesprochen und zahlreiche Möglichkeiten überdacht. Trotzdem fiel ihre letzte Entscheidung spontan. Nur mit zwei Seitenschneidern ausgerüstet fuhren sie abends zur Grenze – eine Entscheidung mit fatalen Folgen.
Karl-Heinz Kube, Mitte der 60er Jahre
Seit dem 11. Plenum des ZK der SED 1965 verschärfte das SED-Regime seinen kulturpolitischen Kurs. Als "westlich" gebrandmarkte Jugendkulturen wie Beat und Rock 'n' Roll sollten zurückgedrängt werden. Viele Jugendliche fühlten sich dadurch eingeengt, auch Karl-Heinz Kube.
Quelle: privat
Erkennungsdienstliche Fotos der Stasi von Detlev S. nach dem Fluchtversuch, Dezember 1966
Detlev S. liebte wie Karl-Heinz Kube Beat-Musik und wollte sich das nicht durch das SED-Regime verbieten lassen. Der Bau der Berliner Mauer hatte zudem seine Familie zerrissen: Sein Vater und sein Bruder lebten im Westen.
Quelle: BArch, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 474/67, Bl. 87-89
Stasi-Beweisdokumentation: einer der zwei Seitenschneider, die S. und Kube bei ihrem Fluchtversuch benutzten, Dezember 1966
Mit den Seitenschneidern drangen S. und Kube in den Todesstreifen vor. Kurz vor dem letzten Drahtzaun entdeckte sie ein Grenzposten, während sie in einem Sperrgraben eine Pause machten. Als Kube sich aus dem Graben erhob, trafen ihn mehrere der insgsamt 40 abgegebenen Schüsse. Weil er nicht rechtzeitig medizinisch versorgt wurde, erlag er seinen Verletzungen.
Quelle: BArch, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 474/67, Bl. 52
Totenschein für Karl-Heinz Kube, ausgestellt vom Institut für gerichtliche Medizin der Ost-Berliner Charité, 17. Dezember 1966
Die Stasi versuchte, die Todesumstände Karl-Heinz Kubes zu verschleiern: Die Leichenbeschauer der Ost-Berliner Charité stellten statt des Todes durch Schusswaffen einen "Verdacht auf nicht natürlichen Tod" durch "eingedrungene Fremdkörper". Einen Sterbeort hielten sie nicht fest, anschließend ließ die Stasi den Leichnam einäschern. So machte sie es unmöglich, durch eine erneute Obduktion die konkrete Todesursache festzustellen.
Quelle: BArch, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 1111/76, Bl. 30
Karl-Heinz Kubes Vater zur Unterschrift vorgelegte Erklärung vom 21. Dezember 1966 (Auszug)
Fünf Tage nach Karl-Heinz Kubes Tod benachrichtigte die Stasi seine Eltern: Als Staatsanwaltschaft Potsdam getarnt, bestellte sie die Eltern zum VP-Revier Kleinmachnow. Sein Vater hatte die Annahme persönlicher Gegenstände zu quittieren, wurde von der bevorstehenden Einäscherung in Kenntnis gesetzt und erklärte, für die Bestattungskosten selbst aufzukommen. Das Dokument nennt als Kubes Todesursache, er sei bei einem "selbstverschuldeten Grenzdurchbruchsversuch tödlich verunglückt".
Quelle: BArch, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 1111/76, Bl. 40 f.
Bericht der KD Potsdam zu den Reaktionen auf Kubes Tod in dessen Heimatort, 6. Januar 1967
"Fremdarbeiterlager Marienfelde" ist eine diffamierende Bezeichnung für das NAL Marienfelde, die erste Anlaufstelle für DDR-Flüchtlinge in West-Berlin.
Quelle: BArch, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 474/67, Bl. 67-69
Meldung der Abteilung IX der BV Potsdam an die HA IX über den Abschluss des Strafverfahrens gegen Detlev S., 7. Juli 1967
Am 22. Februar 1967 verurteilte das Kreisgericht Potsdam Detlev S. zu einem Jahr und acht Monaten Gefängnis, insbesondere wegen Verstoßes gegen das DDR-Passgesetz, weil er und Kube ohne Genehmigung und Pass die DDR hatten "verlassen" wollen.
Quelle: BArch, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 474/67, Bl. 92
"Wer ist wer?": Die Beantwortung dieser Frage war ein Kernmotiv der geheimpolizeilichen Arbeit der Stasi. Dazu sammelte sie permanent Informationen, vor allem zu Personen. Den Zugang zu den Daten ermöglichten Karteien. Die Stasi unterschied "zentrale Karteien" der Abt. XII und "dezentrale Karteien" der einzelnen Diensteinheiten. Heute sind 39 Mio. Karteikarten in 4.475 überwiegend personenbezogenen Karteien erhalten.
Karteikarte der alphabetisch geordneten zentralen Personenkartei F 16 zu Detlev S.
In die F-16-Kartei nahm die Abt. XII alle von der Stasi "erfassten" Personen auf, egal ob sie der Stasi als "Freund" oder "Feind" galten. Die F-16-Karteikarten enthalten auf der linken Seite Grunddaten zur Person, auf der rechten interne Informationen wie die bearbeitende Diensteinheit. Die oben aufgestempelte Registriernummer ist der Schlüssel zur Vorgangskartei F 22. Warum die Person in der Kartei erfasst wurde, ist der Karteikarte nicht zu entnehmen.
Quelle: BArch, MfS, Abt. XII, Nr. 8370
Karteikarte der nach Registriernummern geordneten zentralen Vorgangskartei F 22 zum Untersuchungsvorgang (UV) gegen Detlev S.
In die F-22-Kartei nahm die Abt. XII alle bei der Stasi "registrierten Vorgänge" wie OPK, OV, IM oder UV auf. Die Registriernummer auf der F-16-Karteikarte führt zur F-22-Karteikarte mit der gleichen Nummer und macht so die Stasi-Unterlagen zur Person zugänglich. Zu Karl-Heinz Kube legte die Stasi eine F-16-Karte an, jedoch keine F 22: Da er erschossen wurde, führte sie gegen ihn keinen "Vorgang". Jede Karteiabfrage wurde von der Abt. XII registriert, um unbefugte Zugriffe und einen unkontrollierten Informationsabfluss zu verhindern. Die Karteien sind heute im Bundesarchiv – Stasi-Unterlagen-Archiv das zentrale Recherchemittel für personenbezogene Unterlagen.
Quelle: BArch, MfS, Abt. XII, Nr. 8376
Karteikarte der dezentralen VSH-Kartei der HA XIX/1
Ab 1980 führte jede Diensteinheit eine VSH-Kartei mit Personen, die in ihr Blickfeld geraten waren, ohne dass sie gegen sie "operativ" vorging oder sie als Spitzel einsetzte. So hatte die HA XIX hier Anträge eines Reichsbahn-Mitarbeiters auf "Reisen in dringenden Familienangelegenheiten" (RdF) in den Westen überprüft. Auf der Rückseite vermerkte sie die Namen der Westverwandten. Gleichzeitig erfolgte die Registrierung in der F-16-Kartei mit der Information, dass die HA XIX/1 den Reichsbahner "VSH-erfasst" hat.
Quelle: BArch, MfS, HA XIX, Nr. 9452